1. kingdom come
2. the curtain has fallen
3. join the great majority
4. give up the ghost
life is a highly overrated phenomenon
5. be given a gentle push
6. the great adventure
Literaturverzeichnis samt Linx
Inhaltsverzeichnis und Gästebuch



4.3.1. Eine Annäherung mit Nietzsche


4.  give up the ghost - Denklust
4.1.  Der Freier und die Frauen
4.2.  Der Abenteurer
4.3.  Der Überlebende
4.3.1.  Eine Annäherung mit Nietzsche
4.3.2.  Der Überlebende des Nicht-zu-Überlebenden
4.3.3.  Leerstelle Auschwitz
Eine Möglichkeit, den Aspekt des Überlebens näher zu beleuchten, bietet der Vergleich mit einem Fragment von Nietzsche:

Oedipus. Reden des letzten Philosophen mit sich selbst.
Ein Fragment aus der Geschichte der Nachwelt.
Den letzten Philosophen nenne ich mich, denn ich bin der letzte Mensch. Niemand redet mit mir als ich selbst, und meine Stimme kommt wie die eines Sterbenden zu mir. Mit dir, geliebte Stimme, mit dir, dem letzten Erinnerungshauch alles Menschenglücks, laß mich nur eine Stunde noch verkehren, durch dich täusche ich mir die Einsamkeit hinweg und lüge mich in die Vielheit und die Liebe hinein, denn mein Herz sträubt sich zu glauben, daß die Liebe todt sei, es erträgt den Schauder der einsamsten Einsamkeit nicht und zwingt mich zu reden, als ob ich Zwei wäre.
Höre ich dich noch, meine Stimme? Du flüsterst, indem du fluchst? Und doch sollte dein Fluch die Eingeweide dieser Welt zerbersten machen! Aber sie lebt noch und schaut mich nur noch glänzender und kälter mit ihren mitleidslosen Sternen an, sie lebt, so dumm und blind wie je vorher, und nur Eines stirbt - der Mensch. - Und doch! Ich höre dich noch, geliebte Stimme! Es stirbt noch Einer außer mir, dem letzten Menschen, in diesem Weltall: der letzte Seufzer, dein Seufzer, stirbt mit mir, das hingezogene Wehe! Wehe! geseufzt um mich, der Wehemenschen letzten, Oedipus.
(KSA 7/460f; Sommer 1872-Anfang 1873)

Dieser Text des frühen Nietzsche kann direkter als die Horstmannschen Gedankenspiele als persönliche Erzählung einer großen Einsamkeit gelesen werden, der Verlust, das Vermissen konkreter Menschen ist spürbar 66. Nietzsche thematisiert wesentlich stärker die psycho-physischen Turbulenzen beim "gedankenflug" in die Nachgeschichte, er kennt zwar die Reiseroute dahin, er weiß, wie die Welt weggedacht werden kann, aber er ist dabei nicht glücklich, und er behauptet es auch nicht.

"Nietzsche hat so ziemlich alles gesagt...er hat die miteinander unverträglichsten Dinge gesagt und gesagt, daß er sie sagt."
Jacques Derrida
Nietzsches Position zur Apokalypse ist keine eindeutige. Einerseits kann man Nietzsche als den Anti-Eschatologen schlechthin bezeichnen 67, bei dem es kaum einen anderen Begriff gibt, der durchgängig so positiv besetzt ist, wie der der Zukunft. Andererseits enthält die Ausrichtung auf Zukünftiges automatisch das apokalyptische Denkschema einer Entwertung der Gegenwart. Die "Kritik an den letzten Dingen" (Birus 1996, S. 33), die Nietzsche v.a. in Richtung des götterdämmernden Wagner 68 und des willensverneinenden Schopenhauer 69 übt, ist immer sehr stark auf die kritisierte Eschatologie bezogen.
So gibt es bei Nietzsche einen starken apokalyptischen Diskurs, der "Von den letzten und ersten Dingen" handelt. Der letzte Philosoph Oedipus im zitierten Fragment ist dabei ein Vorläufer des letzten Menschen, der mit dem Übermenschen und dem höheren Menschen ein zentrales Figurenensemble in Also sprach Zarathustra bildet. Dieses apokalyptische Personal nimmt Nietzsche v.a. aus poetischen Weltuntergangsfantasien des frühen 19.Jahrhunderts, den Übermensch etwa von Goethe 70 , die beiden anderen wahrscheinlich von Jean Paul 71 . In dessen Erzählung "die wunderbare Gesellschaft in der Neujahrsnacht" (1801) beginnt ein Jüngling eine apokalyptische Rede so:

Es gibt einmal einen letzten Menschen - er wird auf einem Berg unter dem Aequator stehen und herabschauen auf die Wasser, welche die weite Erde überziehen - festes Eis glänzet an den Polen herauf - der Mond und die Sonne hängen ausgebreitet und tief und nur blutig über der kleinen Erde, wie zwei trübe feindliche Augen oder Kometen - das aufgethürmte Gewölke strömet eilig durch den Himmel und stürzet sich ins Meer und fährt wieder empor, und nur der Blitz schwebt mit glühenden Flügeln zwischen Himmel und Meer und scheidet sie - Schau' auf zum Himmel, letzter Mensch! Auf deiner Erde ist schon alles vergangen - deine großen Ströme ruhen aufgelöset im Meere" (zit. nach Birus 1996, S. 39).

Diese Skizze enthält das klassische apokalyptische Szenario einer Gegenüberstellung der vereinzelten Person und eines kosmischen Geschehens. Mehr als andere Erzählungen über Natur (wie etwa der Erhabenheitsdiskurs) kennt die Apokalypse ein kosmisches Feld. Nietzsches "Mitleidslosen Sternen" entsprechen Mond und Sonne, die "Tief und nur blutig" "Wie zwei trübe feindliche Augen oder Kometen" über der "Kleinen Erde" hängen 72.

An anderer Stelle beschreibt Paul die Figur des letzten Menschen mit den Worten:

,Rund um mich eine weite versteinerte Menschheit - In der finstern unbewohnten Stille glüht keine Liebe, keine Bewunderung, kein Gebet, keine Hoffnung, kein Ziel - Ich so ganz allein, nirgends ein Pulsschlag, kein Leben, Nichts um mich und ohne mich Nichts als Nichts (...) - So komm' ich aus der Ewigkeit, so geh' ich in die Ewigkeit--Und wer hört die Klage und kennt mich jetzt? - Ich. - Wer hört sie, und wer kennt mich nach der Ewigkeit? - Ich." 73

Das Motiv des fehlenden Adressaten der postapokalyptischen Rede ist hier wie in Nietzsches Oedipus-Fragment klar ersichtlich. Ebenso wird die Klage laut über den Untergang der Welt, den der Sprecher als einziger überlebt hat. Es ist der eine Überlebende, der sich seines Überlebens im Selbstgespräch vergewissert. Welt ist durch die negative Totalität ihrer Abwesenheit gekennzeichnet, das Nichts anstelle des Alls.

Die besondere Position apokalyptischen Denkens in Bezug auf die außeriridische Sphäre beschreibt Lawrence für die biblische Apokalypse mit dem Schlachtruf "Wir haben den Kosmos verloren!" (Lawrence 1932, S. 246). Sein Gedankengang ortet als wichtigste Schicht in der Apokalypse eine heidnische umittelbare Verbundenheit mit dem Kosmos. Im Rückgriff auf diese Schicht entwirft der Johannestext seine kosmischen Landschaften, die letztendlich nur dazu dienen, zerstört zu werden. Das Christentum am Beginn seiner Herrschaft bedient sich eines älteren Mythenfeldes um sich eine Vorstellung von Welt anzueignen, die dann sogleich wieder aus der Welt geschafft wird. Für die Moderne ortet nun Lawrence den Verlust jeglichen Verstehens dieser alten Weltverbundenheit. Die in der Apokalypse noch mächtigen Symbole der Verbindung zum Kosmos sind zu blossen Allegorien geschrumpft.
Harth (1999) beschreibt den Vorgang der Ablösung des mythischen Weltmodells als Medienrevolution:

Was die Texte offenbaren, beruht nicht zum geringsten auf jener Schwarz-Weiß-Malerei, die archaische Wildheit mit den Mitteln der Schriftkultur besiegt. Wütenden Untieren, geifernden Monstern gleich treten die erdverhafteten analphabetischen Mächte an zum letzten Gefecht mit dem Himmel, dessen vernichtendes Feuer eine Medienrevolution vorbereitet. Denn der neue, aus dem Feuer geborene Mensch apportiert das Buch als Symbol einer anderen, einer die Welt entziffernden und auslegenden Macht.
(Harth 1999, S. 10)

Die Bemächtigung des Kosmos ist demnach auch als Besetzen eines Raumes der Höhe (Geist, Wahrheit, Wort, Schrift) zu verstehen, alles Gute kommt fortan von oben (die Apokalypse ist heilsbringend 74 ), bzw. es thront oben anstelle der kosmischen Mächte das unsichtbar Gute namenslos als Gott.

Das Aufgreifen des kosmischen Szenarios in den Texten von Nietzsche und Jean Paul geschieht auf der Basis des verlorenen Kosmos. Der einzelne Mensch, der der einzige und letzte Mensch ist, ist alleine mit sich und der Welt. Und die Welt ist gegen ihn. Am Ende dieser Linie steht die Horstmannsche These vom anthropo-konstanten Deplaziertheitsgefühl. Es findet keine Wiederbelebung des Kosmos statt, die Beschreibungen des Kosmos sind antropomorph. Anders als in der biblischen Apokalypse gibt es keine Drachen mehr. Die Welt ist zum Anderen des Menschen geschrumpft, sie wird zum Spiegelbild des Menschen und schaut ihn an. Zwei Körper existieren am Ende, der eine menschliche und der eine der einen Welt.

Den die angeführten literarisch/philosophischen Texte orchestrierenden naturwissenschaftlichen Diskurs beschreibt mit Verve Schumacher 75 :

"die Physik des ausgehenden 19.Jahrhunderts hatte das erschreckende Bild eines Kosmos geschildert, der langsam aber sicher stirbt. War es auch nicht mehr der Schweif eines Kometen, der die Erde zu Asche glüht, so wurde dieser alte Spass doch exakt und neu durch den zweiten Hauptsatz von der Energie. Dieser besagt, die Entropie der Welt strebe ihrem Maximum zu, wobei unter Entropie die Summe aller nicht mehr arbeitsfähigen Energie zu verstehen sei. [...] Wenn der ,Zahn der Zeit' fertig gekaut hat, ist alles nur noch ein abgestandener Urbrei; also einer, der nicht einmal mehr gärt; kein morgendliches Chaos, sondern die absolute Dämmernacht, aus der es kein Erwachen gibt, ein Sand- und Nebelmeer; die letzte Amöbe starb soeben an Trostlosigkeit und Erkältung." (Schumacher 1937, S. 93)

"dieser alte Spass" versetzt dem Kosmos also einen Todesstoß, indem er ihn sterblich vorstellt, der Kosmos ist endgültig Mensch geworden 76.

 

Bei Nietzsche finden sich weitere Beispiele teleologischer und eschatologischer Denkfiguren, etwa die moralphilosophische Gliederung der Geschichte in eine "Vormoralische', eine "Moralische' und eine "außermoralische' Periode der Menschheit (Jenseits von Gut und Böse, Aphorismus 32). Das im Untertitel "Vorspiel einer Philosophie der Zukunft' bezeichnete Buch Jenseits von Gut und Böse kennt etliche Bilder der Brücke 77 , des Übergangs und des Hinüberschreitens in ein ,Jenseits' der bisherigen Geschichte des Menschen (vgl. etwa Aphorismus 55). Das bekannteste Bild für eine eschatologische Denkfigur ist sicherlich die Behauptung vom Tod Gottes (Fröhliche Wissenschaft, Aphorismus 125 "der tolle Mensch"; KSA 3/480).

"doch zeigt sich bei einer genaueren Analyse der Texte, daß dieser Prozeß nicht in einem fest umrissenen ,Jenseits' wirklich ankommt, sondern einen ewig andauernden Prozeß der Überwindung darstellt" (Behler 1988, S. 125).

Ich verzichte auf eine eingehende Analyse der Argumentation dieses Zitats, die den Rahmen dieser Arbeit angesichts der immensen Sekundärliteratur zu Nietzsche sprengen würde 78 . Die These, dass Nietzsche nicht auf einen fixen Endpunkt abzielt (der etwa Übermensch heißen könnte), lässt sich en passant auch an der kurzen Stelle aus dem Zarathustra belegen, die Horstmann im Untier 79 zitiert: "Was geliebt werden kann am Menschen, das ist, daß er ein Übergang und ein Untergang ist." Die Verknüpfung dieser beiden Verwandlungsformen macht m.E. die spezifisch nietzscheanische Position aus. Horstmann kann hingegen den Übergang nicht gebrauchen und feiert ausschließlich den Untergang ab (Horstmann 1983, S. 58).

In Die fröhliche Wissenschaft wird der endzeitliche Diskurs bei Nietzsche von einem anderen durchkreuzt, kritisch hinterfragt und aufgehoben. Aphorismus 109 (KSA 3/467-469) entlarvt unter dem Titel "Hüten wir uns!" das Denken in teleologischen Kategorien als anthropologische Projektion.
Das warnende "Hüten wir uns!" gilt dabei zuerst der Vorstellung, dass "die Welt ein lebendiges Wesen sei":

"Wohin sollte sie sich ausdehnen? Wovon sollte sie sich nähren? Wie könnte sie wachsen und sich vermehren? Wir wissen ja ungefähr, was das Organische ist: und wir sollten das unsäglich Abgeleitete, Späte, Seltene, Zufällige, das wir nur auf der Kruste der Erde wahrnehmen, zum Wesentlichen, Allgemeinen, Ewigen umdeuten, wie es jene thun, die das All einen Organismus nennen? Davor ekelt mir."

Das All sei aber auch nicht als Maschine aufzufassen, die auf ein Ziel hin konstruiert ist: "Wir thun ihm mit dem Wort "Maschine' eine viel zu hohe Ehre an". Nietzsche versteht die "astrale Ordnung, in der wir leben", das solare Planetensystem also, als Ausnahme vom Gesamtcharakter der Welt, der in alle Ewigkeit aus Chaos bestehe. Wiederum die Ausnahme von der Ausnahme sei die Entstehung organischen Lebens. Nietzsche idealisiert dabei weder das Phänomen Leben noch das Chaos der unbelebten Materie. Was dem kosmischen Chaos fehlt sind Kategorien ,ästhetischer Menschlichkeit" wie Ordnung, Gliederung, Form, Schönheit, Weisheit. Doch schon das Anlegen solcher Maßstäbe ist Vermessenheit:

"Von unserer Vernunft aus geurtheilt, sind die verunglückten Würfe weitaus die Regel, die Ausnahmen sind nicht das geheime Ziel, und das ganze Spielwerk wiederholt ewig seine Weise, die nie eine Melodie heißen darf, - und zuletzt ist selbst das Wort "Verunglückter Wurf" schon eine Vermenschlichung, die einen Tadel in sich schliesst. Aber wie dürften wir das All tadeln oder loben! Hüten wir uns, ihm Herzlosigkeit und Unvernunft oder deren Gegensätze nachzusagen: es ist weder vollkommen, noch schön, noch edel, und will Nichts von alledem werden, es strebt durchaus nicht darnach, den Menschen nachzuahmen! Es wird durchaus durch keines unserer ästhetischen und moralischen Urtheile getroffen!" (ebd.)

Nietzsche spricht dem All ästhetisches Potential ab - im Gegensatz zu Horstmann, der den menschenleeren Garten Eden als das Schöne schlechthin beschwört. In den Nachgedichten formuliert Horstmann etwa:

"die äußerste denkbare Katastrophe ist vorüber - und mit ihr die Kontinuität des menschlichen Leidens. Es gibt eine Ästhetik des Nicht-Menschlichen, eine Schönheit der Menschenleere, die die plärrende Ich-Sucht unserer Gattung seit einigen Jahrhunderten nicht mehr wahrhaben will, wenngleich sie der technologische Fortschritt endlich in ihrem radikalen Anspruch für uns verfügbar gemacht hat. Es ist an der Zeit, diese Ästhetik der Verdinglichung zu vermitteln, damit wir wissen, wofür wir sterben." 80

das Spielwerk der Nietzschewatch - © Unemployed Philosopher's GuildNietzsche expliziert den Gedanken von der ewigen Wiederkunft des Gleichen, der im zitierten Aphorismus 109 schon durchklingt ("das ganze Spielwerk wiederholt ewig seine Weise, die nie eine Melodie heißen darf"), im Aphorismus 341 (KSA 3/570) als hypothetische Einflüsterung eines Dämons:

"dieses Leben, wie du es jetzt lebst und gelebt hast, wirst du noch einmal und noch unzählige Male leben müssen; und es wird nichts Neues daran sein, sondern jeder Schmerz und jede Lust und jeder Gedanke und Seufzer und alles unsäglich Kleine und Grosse deines Lebens muss dir wiederkommen, und Alles in der selben Reihe und Folge [...]. Die ewige Sanduhr des Daseins wird immer wieder umgedreht - und du mit ihr, Stäubchen vom Staube!"

Der so Angesprochene kann entweder den Dämon verfluchen oder ihm antworten: "du bist ein Gott und nie hörte ich Göttlicheres!" - denn:

Wenn jener Gedanke über dich Gewalt bekäme, er würde dich, wie du bist, verwandeln und vielleicht zermalmen; die Frage bei Allem und Jedem "Willst du dies noch einmal und noch unzählige Male?' würde als das grösste Schwergewicht auf deinem Handeln liegen! Oder wie müsstest du dir selber und dem Leben gut werden, um nach Nichts mehr zu verlangen, als nach dieser letzten ewigen Bestätigung und Besiegelung?- (ebd.)

Der Ewige-Wiederkunfts-Gedanke ist einerseits die "Höchste Formel der Bejahung, die überhaupt erreicht werden kann" (KSA 6/335) 81 und damit "Ein grundsätzlicher Einspruch gegen alle überkommenen Spielarten der Eschatologie als materialer "Lehre von Letzten'" (Birus 1996, S. 49). Andererseits bahnt sich in einer Formulierung wie: "die Lehre von der Wiederkehr ist der Wendepunkt der Geschichte" (KSA 10/515) die eschatologische Form der Überwindung der Eschatologie bei Nietzsche an, worauf Birus (1996, S. 49ff) mit Derrida (1985) hinweist. Der apokalyptische Ton bei Nietzsche lässt sich im Spätwerk schon an den Titeln ablesen: Götzen-Dämmerung ("auf deutsch: es geht zu Ende mit der alten Wahrheit..." KSA 6/354) bzw. Anti-Christ.

Nachdem der jasagende Teil meiner Aufgabe gelöst war, kam die neinsagende, neinthuende Hälfte derselben an die Reihe: die Umwertung aller bisherigen Werthe selbst, der grosse Krieg, - die Heraufbeschwörung eines Tags der Entscheidung. (KSA 6/350)

Die Absicht der Destruktion eschatologischer Diskurse führt bei Nietzsche selbst zu einem eschatologischen Diskurs, einer ,Reinkarnation der jüdisch-christlichen Apokalyptik zum Zwecke ihrer endgültigen Abschaffung" (Birus 1996, S. 51). Die apokalyptische Redeposition beinhaltet die Beanspruchung letzter Wahrheit, in deren Namen die Entwertung anderer Positionen stattfindet. Die intensive Auseinandersetzung Nietzsches mit der christlichen Weltsicht erhält den ,Charakter eines kompletten Vernichtungsversuchs" (Birus 1996, S. 56):

Am Ende sind endgültige Vernichtung der Apokalypsen und ihre triumphale Wiederkehr nicht mehr voneinander zu unterscheiden: Apokalypse der Apokalypsen. Was folgt, ist Nietzsches Privat-Apokalypse - nicht zuletzt im Sinne der obszönen Nebenbedeutung des Medium von apokalayptein "sich entblößen' - in den Wahnsinnsbriefen. (Birus 1996, S. 57)

Schon im letzten Teil von Ecce homo "Warum ich ein Schicksal bin" (KSA 6/365ff) hat Nietzsche seine Bestimmung entblößt:

Ich kenne mein Loos. Es wird sich einmal an meinen Namen die Erinnerung an etwas Ungeheueres anknüpfen, - an eine Krisis, wie es keine auf Erden gab, an die tiefest Gewissens-Collision, an eine Entscheidung heraufbeschworen gegen Alles, was bis dahin geglaubt, gefordert, geheiligt worden war. Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit. (KSA 6/53)

"Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit." 82
In diesem Satz bündelt sich die Auseinandersetzung Nietzsches mit dem eschatologischen Diskurs, er überbietet jede Rede von einem Ende durch den Verweis auf den Träger der Sprengkraft. Der Mensch unterliegt einer Verwandlung und wird Sprengstoff. Für eine andere Zeit eines Überganges, der auch ein Untergang ist, formuliert prägnant Kutzner am Beispiel da Vincis:

Leonardo steht an der Stelle des Überganges, wo der Leib in seinen Möglichkeiten und Versprechungen hervortritt, indem ihm die konkreten Beziehungen in Arbeit und Lebensvollzug zunehmend verschlossen werden, dieser Leib aber zugleich dem ungeheuren Druck ausgesetzt wird, abwesend sein zu müssen. [...] Leonardos Zeichnung des nackten Mannes im kosmologischen Kreis, auf dem die Proportionslinien aufgezeichnet sind, deutet dieses Schicksal an. Das Innen ist der vom Maschinen-Außen abgetrennte Bereich, in dessen Inneren die furchtbare Kraft des codierten und weggezwungenen Leibes tobt. Diese Kraft ist die andere Seite der bürgerlichen Maschinen, die Wiederkehr des von ihnen verdrängten Leibes. Die wirbelnden Wassermassen der Sintflut, die Leonardo gegen Ende seines Lebens zeichnet, bringen diese Kraft erstmals zur Anschauung; es ist die souveräne Substanz, die das Bürgertum immer wieder faszinieren wird, die letzte Maschine, der Malstrom in uns und der Kataklysmus außer uns, möglicher atomar-explosiver Abschluß der bürgerlichen Welt. (Kutzner 1996, S. 16f)

 

4.  give up the ghost - Denklust
4.1.  Der Freier und die Frauen
4.2.  Der Abenteurer
4.3.  Der Überlebende
4.3.1.  Eine Annäherung mit Nietzsche
4.3.2.  Der Überlebende des Nicht-zu-Überlebenden
4.3.3.  Leerstelle Auschwitz
Nietzsche verkörpert die explosive Befreiung/Zerstörung des verdrängten Leibes. Die Dynamik des Umwerfens, des Ausbrechens steht bei ihm bei aller Apokalyptik im Vordergrund. Er liest die biblische Apokalypse sozusagen von vorne und nicht von hinten 83 wie Horstmann, bei dem das Danach das eigentliche Motiv bildet. Nietzsche gelangt in seiner Lektüre nicht ans Ende der Apokalypse, er errichtet kein Paradies wieder, und nimmt nicht den jenseitigen Blickwinkel der Apokalypse ein, der die Gegenwart völlig entwertet.

 




Fußnoten

66. Es gibt sehr umfangreiche Literatur zum Verhältnis Werk - Person bei Nietzsche. In Verbindung mit der Herausgabe auch sehr früher Texte Nietzsches und dem Offenlegen der weitverzweigten Einflüsse auf Nietzsche ergibt sich m.E. eine erkennbare Richtung der Forschung. Es geht beim Spurenlesen im "Textkörper Nietzsche" und der an ihm hängenden Textkörper darum, den Körper des Menschen Nietzsche zu erfassen. Bei Nietzsche wird die Überwindung der Trennung des Geistprodukts Werk und des materiellen Körpers auch von der Forschung vollzogen. Nietzsche ist somit auch in der Rezeption der Überwinder der Metaphysik, das Körperliche und das Nichtkörperliche sind nicht mehr voneinander zu trennen, und es entsteht die Vermutung, dass sie es nie waren, bzw. es tritt zutage, dass die Trennung eine erzeugte war.
back to where u once belongedzurück

67. Etwa Birus 1996, S. 33.
back to where u once belongedzurück

68. "Wotan - die Welt vernichten, weil man Verdruss hat.
Brünnhilde - die Welt vernichten lassen, weil man liebt.
(...) Wie ist mir dies alles zuwider!" (KSA 8/554)
back to where u once belongedzurück

69. Formeln wie "Ewige Wiederkehr des Gleichen" (KSA 9/11[141], "dieses Leben - dein ewiges Leben!" (9/11[183]), "Mittag und Ewigkeit" (9/11[195]) und "Wir im Mittage" (10/45) sind umfunktionierte Wendungen aus Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung (Bd.1, §54), in der der proklamierten Verneinung des Willens zum Leben die Konsequenzen von dessen Bejahung kontrastiert werden (vgl. Birus 1996, S. 36 f).
back to where u once belongedzurück

70. Faust I, 490 (s. Birus 1996, S. 38).
back to where u once belongedzurück

71. Dazu: Birus 1996, S. 37 ff.
back to where u once belongedzurück

72. Es gibt zahllose weitere literarische Beispiele für die vollzogene Entzauberung des Kosmos, ein bekanntes ist das Märchen der Großmutter in Büchners Woyzeck:
"Es war einmal ein arm Kind und hat kei Vater und kei Mutter war Alles tot und war Niemand mehr auf der Welt. Alles tot, und es ist hingangen und hat greint Tag und Nacht. Und weil auf der Erd Niemand mehr war, wollt's in Himmel gehn, und der Mond guckt es so freundlich an und wie's endlich zum Mond kam, war's ein Stück faul Holz und da ist es zur Sonn gangen und wie's zur Sonn kam, war's ein verreckt Sonneblum und wie's zu den Sterne kam, warens klei golde mück, die waren angesteckt wie der Neuntöter sie auf die Schlehe steckt und wie's wieder auf die Erde wollt, war die Erd ein umgestürzter Hafen und war ganz allein und da hat sich's hingesetzt und geweint und da sitzt es noch und ist ganz allein." (zit. nach Harth 1999, S. 83)
Ein rezenteres Beispiel, das zudem die Analogie Körper-Kosmos durchspielt, ist Konrad Bayers Gedicht plötzlich ging die sonne aus
plötzlich ging die sonne aus wie eine gaslaterne
und ein rauchpilz zischte auf. es war gar nicht so ferne.
dann trocknet mir das rückgrat ein. ich denk mir, das wird heiter,
das kann doch bloss der anfang sein, da ging's auch fröhlich weiter.
der mond fiel auf die erde drauf mit kosmischen geknalle.
der horizont schob sich zuhauf, jetzt sitz' ich in der falle.
mir platzt das dritte äderchen. das blut schiesst aus den ohren.
ich denk mir, liebes väterchen, gleich kommt es aus den poren.
und während mir die haut abgeht und ich mich sacht verkrümme
und rechts und links die welt vergeht, da hör' ich eine stimme:
liebster, sag mir, liebst du mich? sag mir, lass michs wissen.
ich, du weisst es, ich liebe dich, und ich will dich küssen.
(zit. nach Harth 1999, S. 171)
back to where u once belongedzurück

73. Jean Paul: Clavis Fichtiana seu Leibgeberiana; zit. nach Birus 1996, S. 39.
back to where u once belongedzurück

74. Vgl. dazu etwa die zitierten Äußerungen des ehemaligen US-Innenministers Adams.
back to where u once belongedzurück

75. In: Die Angst vor dem Chaos. Gegenangriff durch Geschichte zugleich Verteidigung der Demokratie, des Christentums, des Mutes des individuellen Mannes und anderer missachteter Ideale; Paris (1937). Unter dem Titel Die Angst vor dem Chaos: über die falsche Apokalypse des Bürgertums in Frankfurt (1978) leicht verändert wieder erschienen.
back to where u once belongedzurück

76. Die Vorstellung eines sterbenden Kosmos hat gegenwärtig keinerlei Bedrohungspotential mehr (außer vielleicht bei Sgalambro's Tod der Sonne): In einer populärwissenschaftlichen Fernsehsendung zum Jahrtausendwechsel wurden mögliche apokalyptische Szenarien (wie Visionen heute genannt werden) wie Klimaveränderung, Vulkanausbrüche, Erdbeben, Flutwellen, Kometeneinschlag und am Rande der Atomkrieg durchgespielt. Die relativ große Unwahrscheinlichkeit der Ereignisse, die Skurrilität der Propheten und das Fehlen einer breiten Untergangsstimmung ließen zur Wiederherstellung des Wahrheitsanspruchs der Apokalypse nur den Verweis auf das sicherlich stattfindende Verlöschen der Sonne zu, mit dem allerdings erst in Tausenden (oder doch Millionen?) von Jahren zu rechnen sei. Apocalypse delayed.
back to where u once belongedzurück

77. Eine entsprechende Stelle findet sich auch im Zarathustra: "Ein Seher, ein Wollender, ein Schaffender, eine Zukunft selber und eine Brücke zur Zukunft - und ach, auch noch gleichzeitig ein Krüppel an dieser Brücke: das Alles ist Zarathustra" (KSA 4/179).
back to where u once belongedzurück

78. Unmittelbare Literatur zu Nietzsche und der Apokalypse: Behler (1988): Apokalyptische Nietzsche-Interpretationen: Heidegger und Derrida; Kutzner (1996): Nietzsche. Diesseits der Kräfte, diesseits der Bilder. Zur Endgeschichte der europäischen Sinnlichkeit; Birus (1996): Apokalypse der Apokalypsen. Nietzsches Versuch einer Dekonstruktion aller Eschatologie; Derrida (1985): Apokalypse.
back to where u once belongedzurück

79. Horstmann zitiert aus dem Zarathustra auch noch die Stelle an der es heißt, dass der gute Krieg jede Sache heilige (in "Vom Krieg und vom Kriegsvolke"). Horstmann liest die Stelle wie die Apokalypse gern gelesen wird: wortwörtlich, und verbucht sie als Beleg einer Kriegsverherrlichung. Biella (1986, S. 114 f) weist dagegen auf den metaphorischen Sprachgebrauch, der sich aus dem Kontext des Zitats ergibt, hin.
back to where u once belongedzurück

80. Zit. nach: Komin (1993).
back to where u once belongedzurück

81. Ecce homo: "also sprach Zarathustra"; Nietzsche beschreibt seine Niederkunft mit dem Wiederkehr-Gedanken und errechnet eine geistige Schwangerschaft von 18 Monaten, was den Gedanken nahelege, "unter Buddhisten wenigstens, dass ich im Grunde ein Elephantenweibchen bin." (KSA 6/336). Nietzsche nennt die Geburtsmetaphorik beim Namen, er denkt aber nicht in anderer Bahn. Er weiß, was er sagt, und sagt es trotzdem. Vgl. Kapitel 6 dieser Arbeit über die männlichen Geburten der Mittel der Apokalypse.
back to where u once belongedzurück

82. Nietzsche liefert sich mit Nobel ein Fernduell um den wirkungsvollsten Sprengstoff: "alles ist auseinander gesprengt, - ich bin das furchtbarste Dynamit, das es giebt" schreibt Nietzsche in einem der Wahnsinnsbriefe nach Kopenhagen. Ein Gedicht von Gottfried Keller zeigt eine zeitgenössische apokalyptische Beziehung zur Erfindung Nobels:
Dynamit
Seit ihr die Berge versetzet mit archimedischen Kräften,
Fürcht' ich, den Hebel entführt euch ein dämonisch Geschlecht!
Gleich dem bösen Gewissen geht um die verwünschte Patrone,
Jegliches Bübchen verbirgt schielend den Greuel im Sack.
Wahrlich, die Weltvernichtung, sie nahet mit länglichen Schritten,
Und aus dem Nichts wird nichts: herrlich erfüllt sich das Wort!
back to where u once belongedzurück

83. Die Formulierung von der von zwei Seiten her lesbaren Apokalypse des Johannes stammt aus einer Quelle, die ich leider nicht mehr genau angeben kann. Der christologische Gedanke, der dahintersteht: Von vorne gelesen stehen die Beschreibungen der Zerstörung im Vordergrund, das Ende, die Vision des Neuen Jerusalems gerät aus dem Blick. Von hinten gelesen hingegen tritt genau diese klarer hervor, und die "Echt christliche Schrift" kann "als Zeugnis des unerschütterlichen Glaubens an den Sieg Christi und seiner Getreuen" zum "großen Trost- und Mahnbuch der Kirche" werden.
(Zitate aus dem Kommentar zur Apokalypse d. Joh. aus meiner Schulbibel; Einheitsübersetzung, Klosterneuburg 1986).
back to where u once belongedzurück



1. kingdom come 2. the curtain has fallen 3. join the great majority 4. give up the ghost 5. be given a gentle push 6. the great adventure Literaturverzeichnis samt Linx Inhaltsverzeichnis und Gästebuch
life is a highly overrated phenomenon
Zur Theorie des männlichen Weltuntergangs bei Ulrich Horstmann

Diplomarbeit von Thomas Jöchler © 2000